Das Konzert „Musik zur Nacht“ setzt in diesem Jahr besondere Akzente – musikalisch wie rhetorisch. Abschied von Domkapellmeister Berthold Botzet.

Von Sabine Rother

Mit einem künstlerisch funkelnden, emotionalen und innigen Abend unter dem Motto „Musik zur Nacht – sub corona“ pflegt der Karlsverein-Dombauverein Aachen eine seiner schönsten Traditionen. „sub corona“ – unter der mächtigen „Krone“ des in diesem Jahr frisch sanierten und polierten Barbarossaleuchters, eine Stiftung Kaiser Friedrichs I. Barbarossas aus der Zeit um 1165 bis 1170, versammeln sich die Menschen – Mitglieder des seit 177 Jahren bestehenden Vereins, die wissen, dass dieser Abend für das Besondere steht.

„Himmelslichter“ nennt Domkapellmeister Berthold Botzet diesmal das von ihm mit allerhand Raffinessen ausgestattete Programm – das letzte übrigens, das er in dieser Funktion gestaltet, denn 2025 wird er in den Ruhestand gehen. Diesmal ist er allerdings im Dom, der bis auf den letzten Winkel im Sechzehneck besetzt ist, noch sanft lenkender Dirigent und Musiker am kleinen Orgel-Positiv, umrundet von jenen, die diesen Abend zusammen mit ihm prägen: Sopranistin Judith Hilgers, Trompeter Cyrill Gussaroff und Gitarrist Vicente Bögeholz. Doch es gibt nicht nur musikalische Überraschungen: Dompropst Rolf-Peter Cremer bietet mit seinen Meditationen viel Stoff zum Nach- und Mitdenken, lässt Autoren zu Worte kommen, mit denen man vielleicht nicht rechnet.

Vor der ersten Note begrüßt Hubert Herpers, Vorsitzender des Karlsvereins-Dombauvereins, die große Schar der Gäste, unter ihnen gleichfalls sein Vorgänger Jochen Bräutigam sowie die ehemaligen Dompröpste Manfred von Holtum und Herbert Hammans. Dann hört man das Domgeläut, das für ein paar Minuten den bunten Trubel des Weihnachtsmarktes übertönt. Mit Blick hinauf zum Barbarossaleuchter erinnert Hubert Herpers an die anspruchsvolle Aufgabe des Vereins, der sich ganz dem Domerhalt verschrieben hat, und empfiehlt in diesem Zusammenhang das aktuell vom Förderverein der AKV-Sammlung Crous vorgestellte Buch „Domwächter. Die Retter des Aachener Doms“.  Darin haben Autorin Anne Stutenkemper und Illustrator Silvio Neuendorf die Geschichte der legendären „Domwache“ mit einer nachgedichteten, fantasievollen Story verbunden. „Realität ist allerdings, dass damals weder Feuerwehr noch Stadt den jungen Leuten eine Ausstattung für die von Stefan Buchkremer organisierte Schutztruppe bezahlt haben“, betont der Vorsitzende: „Das hat der Karlsverein getan!“

Und so trifft man sich umso lieber im Herzstück des Doms, lauscht im Oktogon unter funkelnden Mosaiken, begleitet vom schönen Muster des Marmorfußbodens, das man nur selten sieht,  ausgewählten Klängen und Worten. Dass die kalte Zugluft langsam selbst durch dicke Stiefel, Mäntel und Jacken dringt, rückt in den Hintergrund angesichts der Schönheit der Werke und der Virtuosität des gesamten Ensembles. Da gibt es selten Gehörtes wie Georg Friedrich Händels „Eternel source of light devine“, himmlisch sanft von Sopran, Trompete und Orgel interpretiert oder „Preludio Saudade“ von Augustin Barrios Mangoré (1885–1944), paraguayischer Komponist und einer der ersten Gitarren-Stars in Südamerika.

Dieser Beginn der „Himmelslichter“ signalisiert bereits die außergewöhnliche und belebende Wirkung des von Botzet gestalteten Programms, in dem der Brite Henry Purcell (1659–1695) zusammen mit seinen Zeitgenossen Johann Sebastian Bach (1685–1750), Georg Friedrich Händel (1685–1755) sowie Johann Friedrich Fasch (1688–1758) erklingt, und dabei „zwanglos“ südamerikanischen  Komponisten wie Heitor Villa-Lobos‘ (1887–1959) mit seinem Klanggemälde „Bachianas Brasileiras“, oder Ernsto Coderos „Madrugada“ begegnet. Vicente Bögeholz entlockt seinen Gitarren dabei zart rieselnde Tonkaskaden, die im Dom organisch wie mystisches Wasser erklingen. Brillanz, starke Präsenz und klangliche Sicherheit bietet der russische Trompeter Cyrill Gussaroff, warme Beständigkeit Berthold Botzet an der Orgel.

Alle drei verbinden sich mit dem Sopran von Judith Hilgers zu einem festlichen Ganzen, mal tröstlich, dann wieder fragend, dramatisch, vielfach beschwingt und leicht. Souverän lenkt Judith Hilgers ihre warme Stimme durch die anspruchsvollen Vokalisen in „Bachianas Brasileiras“ von Bach-Verehrer Villa Lobos, der gern brasilianische Volksmusik mit seiner von Bach geprägten Musik verbindet. Der Gesang vom Glanz des Mondes, der bitter-süßen „Saudade“, jener typischen portugiesischen Traurigkeit, kehrt schließlich summend in die meditative Stimmung des Anfangs zurück.  

Die gleichfalls tiefgründigen Textmeditationen von Dompropst Cremer bieten in Verbindung mit dieser intensiven Musik stimmige Denkansätze – wenn er etwa an den katholischen Tübinger Theologen Fridolin Stier (1901–1981) erinnert, dessen Übersetzung des Neuen Testamentes ins Deutsche sich streng an den griechischen Urtext hält und nicht versucht, stilistische Eigenheiten zu glätten. Sätze wie „Gott, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn“ aus dem salomonischen Psalm Nr. 72 ­geben zu denken. Cremer liest und gibt die außergewöhnliche Wirkung dieser Zeilen an die Zuhörer weiter, die beim nächsten Denker staunen: Gleichfalls Hanns Dieter Hüsch, Kabarettist und Poet vom Niederrhein, ist für Cremer ein Autor, der die Menschen zu Gutem auffordert: „Die Traurigen nehmt in die Arme“, sagt Hüsch und fragt: „Du! Hast du nichts gelernt? Was habt ihr gelernt seit Erschaffung der Welt?“. Dann schickt er die Konzertbesucher mit dem dichtenden Priester Ernesto Cardenal zum „Herrn der Milchstraße“, zum „Herrn der Atome“, den es zu loben gelte – übrigens auch mit, „Blues, Jazz und Beethovens fünfter Sinfonie“. Worte zum Advent stammen von Aachens einstigem Bischof Klaus Hemmerle, der an die „Krippe hinter der Tür des anderen“ mahnt.

Durch Bach erreicht „sub corona“ dann immer wieder die Herzen – wunderschön im Zusammenklang und zugleich im Geflecht ihrer Melodie-Elemente die beliebte Kantate „Jesus bleibet meine Freude“, zu der sich Sopran, Gitarre und Orgel feinfühlig treffen, sowie der glanzvolle Weckruf „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, bei dem der Trompeter auftrumpfen darf.

Zum Schluss euphorischer Applaus und zum Weg in die Adventzeit das gemeinsame Lied: „Macht hoch die Tür“. Alle singen mit und erheben sich von den Plätzen. Kurz zuvor kann Hubert Herpers noch den Domkapellmeister, der rasch zur Orgelempore eilen will, zurückhalten und ihm – nach 23 Jahren und Konzerten „sub corona“ – als Dank des Karlsvereins-Dombauvereins ein beziehungsreiches Geschenk überreichen: die kostbare Replik einer der 16 Bodenplatten des Barbarossaleuchters. Sie trägt die achte Seligpreisung aus der Bergpredigt: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Bei Brot und Wein klingt der Abend im Kreuzgang aus, auch das eine Tradition.

Alle Fotos: Andreas Schmitter