Vom Engel ohne Trompete, einem quietschenden Baukran und einer atemberaubenden 700-jährigen Baugeschichte: Der Kölner Dombaumeister Peter Füssenich verrät beim Karlsverein-Dombauverein Aachen spannende Details und begeistert mit viel Humor.
Von Sabine Rother
„Peter, auf geht’s!“ Die freundschaftliche Aufforderung von Aachens Dombaumeister Helmut Maintz an seinen Kölner Kollegen Peter Füssenich lässt sofort an Türme und Gerüste denken, an all die Arbeiten und den Spürsinn, die zur Erhaltung kostbarer Bausubstanz nötig sind – ob am Aachener oder am Kölner Dom. Darüber mehr zu erfahren, ist immer wieder spannend. So konnte Hubert Herpers als Vorsitzender des Karlsvereins-Dombauvereins unter dem Oktogon im Aachener Dom Peter Füssenich als faszinierenden Gast vorstellen, der den Zuhörerinnen und Zuhörern so manches erzählte, was selbst Kenner der Materie nicht wussten. In erster Reihe: Hedwig Drabik (35), seit März 2019 Deutschlands jüngste deutsche Dombaumeisterin in Speyer, sowie Manfred von Holtum, ehemaliger Dompropst in Aachen und engagierter Domkenner.
„Der Dom kann sich seit 175 Jahren auf uns verlassen“, erinnert Hubert Herpers an das große Jubiläum des Vereins, der mit eine aktuellen Zusage in Höhe von 790.000 Euro in diesem Jahr einen großen Schritt wagt, aber Elektroarbeiten – zumal an einem historischen Gebäude – sind teuer. „Uns liegt der Brandschutz am Herzen, besonders nach den tragischen Ereignissen an Notre Dame in Paris“, betont Herpers. „Elektrokabel die 30 bis 40 Jahre alt sind, bergen enorme Gefahren, können leicht Brände verursachen. Ein Mammut-Programm läuft an.“
Der Aachener Dom ist das erste Bauwerk in Deutschland, das 1978 einen Platz auf der Liste des UNESCO-Welterbes erhielt. „Das erkennen wir neidlos an“, betont Peter Füssenich (51), der 2016 (an seinem Geburtstag, 19. Januar) das Amt des Dombaumeisters in Köln übernahm. „Der Aachener Dom ist älter als der Kölner.“
Das größte Bauwerk, das man kannte
Doch in seinem Blick auf die Baugeschichte setzt Peter Füssenich nicht etwa bei der „Baustelle Köln“ ein, sondern zeigt andere erstaunliche Bilder – Abbildungen und Bauzeichnungen, die zu einem karolingischen Dom in Köln gehören, der bereits 56 Jahre nach dem Tod Karls des Großen im Jahre 870 als St. Hildebold-Dom geweiht wurde. Zwei Türme ein extrem langes Langhaus, dreischiffig. „Damals das größte Bauwerk, das man kannte“, berichtet Peter Füssenich. Mit dem Schrein, der die Reliquien der heiligen drei Könige (ihre gekrönten Schädelkalotten, Kalotte = Dach des Schädels) beherbergt, nahm der Pilgerstrom in Köln heftig zu.
Erzbischof Rainald von Dassel hatte die spirituellen Kostbarkeiten 1164 nach Köln geholt. Peter Füssenich beschreibt, wie die bedeutungsschwere Fracht auf abenteuerlich Weise über Mailand nach Köln kam. Hatte der Erzbischof, einer der Wahlmänner des deutschen Königs, Berater Kaiser Friedrich Barbarossas und als Erzkanzler von Italien aktiv in dessen Italienzug, sie einfach aus der kleinen Kirche St. Eustorgio außerhalb der Stadt Mailand mitgenommen? „Einige Knochen hat man der Kirche gelassen, sie werden dort immer noch verehrt“, sagt Peter Füssenich diplomatisch und erinnert daran, dass bei den seit dem 11. Jahrhundert in Aachen gekrönten Häuptern eine Visite in Köln auf dem Pflichtprogramm stand. „Die heiligen drei Könige wurden zum Vorbild weltlichen Königtums“, betont er. „Da wollte jeder anknüpfen.“
Mit erstarktem Selbstwertgefühl entwickelt man in Köln den Plan, das „höchste Gebäude der Welt“ als Bekenntnis zum Glauben zu bauen, einen gotischen Dom. Dem Abriss von St. Hildebold folgte 1248 die Grundsteinlegung. „Das Jahr kann man sich gut merken“, meint Peter Füssenich. „Einfach nur die vier Ziffern jeweils verdoppeln“.
Bereits nach 70 Jahren Bauzeit gibt es einen Domchor und eine Altarweihe. „Selbst im unfertigen Bau war alles da, im Altarraum brannten die Kerzen“, gibt der Dombaumeister ein atmosphärisches Bild. Köln hatte schon damals eine innovative Großbaustelle: 1520 wird auf dem Stumpf des Südturms der hölzerne Domkran montiert, den man noch auf vielen Darstellungen aus jener Zeit sieht – und der im Wind derart ächzte und knarrte, dass sich die Anwohner beschwerten.
Dreihundert Jahre ein Torso!
Doch dann die schlimme Botschaft: „Arbeiten einstellen, Dombauhütte schließen!“ Die Kassen waren leer, denn im Zuge der Reformation war kein Geld mehr mit Ablässen und Reliquien zu verdienen. „Dreihundert Jahre ein Torso! Mehrere Generationen haben den Kölner Dom nur so gesehen“, weiß Peter Füssenich.
Dann kam das 19. Jahrhundert und die Zeit der Romantik, die sich auf alte Werte besann und „romantisch“ beim Blick auf den pittoresken Teilbau reagierte. Kölner Bürger, an ihrer Spitze die prominenten Kunstsammler-Brüder Sulpiz und Melchior Boisserée, begründeten eine Art Hilfsaktion, sprachen den deutschen Kronprinzen Friedrich-Wilhelm an, aktivierten sogar Dichterfürst Goethe, der in leidenschaftlichen Traktaten ein Loblied auf die Gotik sang. 1842 gründete sich ein Dombauverein, der Ableger in Düsseldorf, Rom, Mexiko und in Paris hatte, wo Heinrich Heine sich für Spenden einsetzte. „Es kam auch Geld aus Aachen, das ja damals zum Erzbistum Köln gehörte“, lächelt Peter Füssenich. Die ursprünglich als verschollen geltenden Architekturzeichnungen zum Dombau tauchten wieder auf – ein Teil in Paris, der andere auf dem Dachboden der Gaststätte „Zur Traube“ in Darmstadt. Das war ein Neustart. Die Zuhörer im Aachener Dom staunen.
1842 gibt es die zweite Grundsteinlegung und nicht nur das: Dampfmaschinen und andere fortschrittliche Hilfsmittel sorgten für einen guten Fortschritt. Nach 38 Jahren griffen die Steinmetze der inzwischen starken Dombauhütte zum letzten Stein. Nach über 630 Jahren war der Bau tatsächlich fertig. „Im Prinzip begann man sofort wieder mit der Sanierung“, lenkt der Experte den Blick auf ein frühes Ereignisse, bei dem „ein herabfallender Engelsflügel beinahe ein Frauenzimmer“ getroffen hätte.
„Wenn alle Arbeiten am Dom fertig sind, geht die Welt unter.“
Geschickt sorgt der Dombaumeister nach der unterhaltsamen Geschichtslektion für bauliche Details, zeigt etwa den Dachstuhl aus Eisen, der leichter ist als die üblichen Holzkonstruktionen und im Zweiten Weltkrieg aushielt. „14 Fliegerbomben und 55 Brandbomben trafen Köln, wo die Innenstadt zu 90 Prozent zerstört wurde“, erinnert Peter Füssenich an die Verwüstungen. „Ein Dachstuhl aus Holz hätte lichterloh gebrannt.“
Bereits 1948 konnte man wieder den ersten Gottesdienst im Kölner Dom feiern, und man hatte Ideen: Der Geißbock, Maskottchen des 1. FC Köln, als Wasserspeyer oder eine Szene mit Spielern am Ball auf einem Säulenkapitel sind moderne „Ikonen“. 2020 wurden das europäische Bauhüttenwesen von der UNESCO zum Immateriellen Weltkulturerbe erklärt, jene Gemeinschaftswerkstätten, die auch in Köln und Aachen die Dome erhalten. „Ohne die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Handwerk geht es nicht“, versichert der Kölner Fachmann. Allein drei Meter große Engel, denen Verwitterung droht – der eine hatte seine Trompete verloren, der andere den Geigenbogen – in 80 Metern Höhe, 456 Türen rundum im und am Dom sind nur wenige Beispiele. „Wir konnten zum Einsetzen der sanierten Teile einen Kran nutzen, den man eigentlich beim Bau von Windrädern sieht“, erklärt Peter Füssenich. „Der war dann mal kurzfristig höher als der Dom.“
Die einzige Innenstadt-Schmiede in Köln glüht am Dom, sechs Gerüstbauer zerbrechen sich immer wieder die Köpfe, wie sie wo an Schäden herankommen, die durch modernste Drohnen ermittelt wurden. Sie haben sogar die Animation eines „Digitalen Doms“ ermöglicht sowie ein regelmäßiges Monitoring. „Viele Werkzeuge gibt es nicht mehr, die müssen wir selbst herstellen“, gibt der Chef einen Einblick und erzählt mit atemberaubenden Bildern vom tonnenschweren Hängegerüst hoch oben an einem der Türme.
Der Dom trägt Erinnerungen, auch an Dombaumeisterin (1999-2012) Barbara Schock-Werner, deren Abbild eine Säule ziert, und ehrt so gleichfalls den gegenwärtigen Papst Franziskus . Vielfach haben es die Steinmetze und Dombaumeister mit französischem Kalkstein oder mit dem vulkanischen Trachyt aus dem Drachenfelsen zu tun. Insgesamt 50 Gesteinsarten gibt es am Kölner Dom – und eine lange Liste für den Dombaumeister: alte Kriegstreffer am Michaelsportal, 10.000 Quadratmeter Fensterfläche aus 700 Jahren, die eigene Glasspezialisten in der Dombauhütte fordert, das tausendjährige Gerokreuz, das Fürsorge der Restauratoren braucht. „Wir müssen es vorsichtig reinigen, sogar Textilfasern von der Kleidung der Besucher setzen sich fest“, weiß Peter Füssenich.
Die Zeit der Corona-Pandemie mit geringeren Besucherzahlen hat man unter anderem genutzt, um 100 Meter Graffitis im Turmaufgang zu entfernen, Böden zu reparieren und zu reinigen. „Es heißt, wenn alle Arbeiten am Dom fertig sind, geht die Welt unter“, gibt Dombaumeister Füssenich seiner Zuhörerschaft noch eine Aufmunterung mit. „Keine Sorge! Bis dahin ist noch Zeit. Mindestens bis 2070, wie es heißt.“ Viel Applaus. Zum Schluss wird gesammelt – allerdings für Aachens Dom!