Seit dem 1. Mai künden die Schmucktücher an den Turmkapellen und der Oktogonbrücke vom Beginn der diesjährigen Heiligtumsfahrt in Aachen. Seit dem Mittelalter waren dies die Orte, von denen aus die vier großen Textilreliquien gezeigt wurden. Zahlreiche Gemälde und Fotoaufnahmen zeigen, wie dicht gedrängt die Gläubigen um den Kirchenbau herumstanden. Wer es sich leisten konnte, mietete sich einen Standort auf den Dächern der angrenzenden Häuser.

Der heutige Westturm des Aachener Münsters ist eines der großen Restaurierungsprojekte, die der Karlsverein im 19. Jahrhundert ausführen ließ. Und Albrecht Dürer spielte eine entscheidende Rolle dabei.

Bis zum großen Aachener Stadtbrand am 2. Mai 1656 krönte eine mächtige, gotische Turmanlage das Bauensemble des Aachener Münsters. Mit Blick auf die Nutzung während der Heiligtumsfahrt befanden sich unterhalb des Glockenstuhls zwei Geschosse. Das obere der beiden war mit einer Galerie zum Domhof und zwei seitlichen Kapellen ausgestattet. Auf der gleichen Ebene schloss sich nach Osten eine Brücke als Zugang zum Dachstuhl des Oktogons an. Während des Stadtbrandes gingen der Turmhelm sowie das Glockengeschoss vollständig verloren und nur das unterste Geschoss des gotischen Turms blieb erhalten. Anstelle des mächtigen Turmaufbaus entstand ein notdürftiges Glockengeschoss in barocker Formgebung, das deutlich die Handschrift eines Provisoriums trug.

Die Heiligtumsfahrt im Jahr 1853 nach Michael Neher. Vor der Wiederherstellung des Westturms durch den Karlsverein krönte lange Zeit eine barockes Provisorium das karolingische Westwerk. (Abbildung © Suermondt-Ludwig-Museum Aachen).

Nach der umfassenden äußeren Wiederherstellung der gotischen Chorhalle und Kapellen begannen 1872 Überlegungen, auch den Westturm des Aachener Münsters wieder herzustellen. Die Frage war nur, in welcher Formgebung dies geschehen sollte. Quellen zum ursprünglichen karolingischen Dachabschluss des Westwerks fehlten und das Stiftskapitel legte Wert darauf, dass der neue Turm wieder die Nutzung während der Pilgerfahrt ermöglichen sollte. Unter diesen Umständen entstanden auf Seiten der preußischen Denkmalpflege erste Pläne für die Neugestaltung des Westturmes.

Durchgesetzt hat sich schließlich ein Plan von Hugo Schneider, eines vom Aachener Kanonikus Franz Bock protegierten Architekten, der sich an mehreren Restaurierungsprojekten am Aachener Münster beteiligte. Schneider orientierte sich bei seinem Entwurf an bildlichen Überlieferungen des zerstörten gotischen Turms. Zu den bekanntesten Quellen gehört hierbei eine Silberstiftzeichnung, die Albrecht Dürer angefertigt hatte. Dürer weilte 1520 aus Anlass der Krönung Karls V. in Aachen und zeichnete dabei auch die Außenansicht des Aachener Münsters. Seine sehr detaillierte Skizze ist eines der wichtigsten Zeugnisse zum Bauzustand des Aachener Münsters vor dem Stadtbrand von 1656.

Sechs Wochen vor Beginn der Heiligtumsfahrt werden die Schmücktücher an Turm und Oktogonbrücke aufgehängt. (Foto: © Lydia Konnegen)

Wenn wir heute auf den Turm schauen, sehen wir die Bausubstanz des neogotischen Turmes, der mit Hilfe des Karlsvereins zwischen 1879 bis 1884 errichtet wurde. Rund 100 Jahre waren die aufwändig gestaltete Turmgalerie und die beiden Heiltumskapellen die zentralen Orte während der siebenjährigen Heiligtumsfahrt. 1986 fand die letzte Weisung der Reliquien an diesen Orten statt. Seitdem werden die vier großen Heiligtümer im Chorraum des Domes oder bei den Messen auf dem Katschhof gezeigt.