Musik zur Nacht: Brillantes Trio aeolus mit Werken von Fauré, Andrès, Tschaikowski und Debussy unter dem Barbarossaleuchter des Aachener Doms

Von Sabine Rother

Es liegt ein Hauch von Mittelalter über dem Dom. Das Licht hat man zum dämmrigen Modus „Nachtführung“ heruntergefahren. Unter dem Barbarossaleuchter mit Blick auf die funkelnden Mosaiken sitzen rund 450 Menschen in einer großen Runde um die Solistinnen: „Musik zur Nacht – Sub Corona“ nennt der Karlsverein-Dombauverein Aachen seine jährliche Einstimmung auf den ersten Advent. Während rund um den Dom auf dem Weihnachtsmarkt lautstark gefeiert wird und sich Bratenduft sogar durch die festen Pforten des Doms schleicht, verharren drinnen Zuhörerinnen und Zuhörer – nicht ausschließlich Vereinsmitglieder –, um beim Abend unter dem Motto „Inspirationen der Vergangenheit“ Ruhe und gute Gedanken zu finden. Musikalische Raritäten stehen auf einem von Domkapellmeister Berthold Botzet ausgewählten Spezialitäten-Programm – die „Visitenkarte“ des „Trios aeolus“ mit Stefanie Faust, Flöte, Linda Leharová, Viola, und Christina Maria Kausel-Kurz, Harfe. Drei virtuose Musikerinnen, drei Instrumente, deren feinste Klänge hoch hinauf in die Kuppel des Oktogons steigen und sich im feierlichen Rund sanft verbreiten – da gibt es trotz Erkältungszeit kaum Huster, es ist, als ob die Musikfreunde in dicken Mänteln und Schals  angesichts der Schönheit den Atem anhalten.

Als Gastgeber tritt Hubert Herpers in die Runde, Vorsitzender des Karlsvereins. „450 Menschen bei der Musik zur Nacht, das ist großartig“, freut er sich und kann hier auch seinen Vorgänger, Ehrenmitglied Jochen Bräutigam sowie die beiden ehemaligen Dompröpste Helmut Poqué und Manfred von Holtum begrüßen. „Ich habe sie beide dort am Altar platziert“, lächelt Herpers. Er  berichtet kurz von den großen Hilfen des Vereins für den Dom im ablaufenden Jahr – unter anderem bei der umfangreichen Erneuerung der Brandschutzanlage und dem Kampf des Dombaumeisters und seines Teams gegen gefährlich-marode Elektrokabel. Noch ein Tipp zu Weihnachten: „Man erhält für 50 Euro eine dreijährige Mitgliedschaft zum Verschenken!“ Jetzt bereits kann man dem digitalen Adventskalender auf Social Media mit vielen Details zum Dom folgen (Infos auch unter www.karlsverein.de).

„Sub Corona“ – da geht es nicht ohne geistlichen Beistand: Dompropst Rolf-Peter Cremer nimmt in zwei Textmeditationen das Publikum mit in seine Gedanken und Deutungen zum Thema „Sehnsucht“, zitiert dabei Denkerinnen und Denker der Jahrhunderte. Man horcht auf, denkt mit, denkt vielleicht sogar an ein Nachlesen. Das musikalische Programm der drei Solistinnen, die ein so stimmiges, wunderbar aufeinander eingespieltes Trio aeolus  bilden, regt ergänzend dazu an, versetzt die Zuhörerschaft in eine sehr besondere Stimmung zwischen schwingender Melancholie und Lebenshoffnung, wie sie zum Schluss Claude Debussys (1862–1918) Sonate für Flöte, Viola und Harfe vermittelt. Ein Werk, das aufrüttelt, falls man sich in den vorherigen romantischen Harmonien zu sehr „zurückgelehnt“ hat.

Die Stücke auf dem Programm sind so geschickt ausgewählt, dass mal Stefanie Faust mit ihrer Flöte den klaren Ton angibt, Linda Leharová ihre Viola warm und stark singen lässt oder Christina Maria Kausel-Kurz die leuchtenden, glitzernden Kaskaden der Harfe einsetzt und damit aufkommende Düsternis vertreibt. Den Auftakt bildet Gabriel Faurés (1845–1924) sanfte „Pavane op. 50“, ein klingendes Gespräch zwischen den drei Instrumenten, ein wenig geisterhaft, ein Glanz, wie er von den Dom-Mosaiken abstrahlt.

Aus den Tiefen schöpft Peter I. Tschaikowskis (1840–1893) „Valse sentimentale“ aus den „6 Pieces op. 51“, der aus Gefühlstiefen aufsteigt, behutsam vom Trio aeolus interpretiert und ausgestaltet wird, ein Stück, in dem Melancholie mitschwingt, das Tränen aufsteigen lässt und das gern für anspruchsvolle Filme verwendet wird – es entstand 1882, in einer für den Komponisten schwierigen, vielleicht schwermütigen Zeit.

Mit seiner Meditation holt Cremer wieder alle in die Gegenwart, um aber gleichzeitig neue Tiefen anzusteuern: „Ich bin Nichtraucher“ verkündet er der verblüfften Zuhörerschaft. „Aber die Bitte um Feuer ist doch eigentlich eine bequeme Kontaktaufnahme.“ Edles Erbstück? Sturmfeuerzeug? Buntes Einwegfeuerzeug oder Streichhölzer? „Das sagt schon eine Menge über die Besitzer, verrät sogar etwas von ihren Sehnsüchten, von der Unruhe des Herzens“, wagt Cremer den Sprung zum Adventsthema: Sehnsucht. Er spricht über die Ausdeutungen einer Gemütslage, die nicht nur Theologie und Philosophie beschäftigt. „Kennen Sie ihr Feuer? Es lohnt, nach oft verschütteten Tiefen der Seele zu forschen und das Feuer mit seiner Lebensenergie zu genießen – nach den Worten der Lyrikerin Nelly Sachs: „Immer ist im Herzen Raum für mehr.“

Wie eine Antwort darauf erklingen von Gegenwartskomponist Bernard Andrès (1941) „Algues 7 pièces“, träumerisch, kreativ wie ein klingender Springbrunnen, der jedes Instrument „sprudeln“  lässt. Bei Gabriel Faurés „Fantasie op. 79“ ist er in guter Gesellschaft. Es gibt Höhenflüge und nachdenkliche Tiefen, Glück in kleinen Trillern, viele Farben und eine Frische, die Cremer erneut aufgreift, von der Sehnsucht, den Wünschen an das Leben oder an eigenes Wirken übergeht zur Sehnsucht nach Gott. „Wie kann man nach jemandem Sehnsucht haben, von dem man kaum eine Vorstellung hat?“ nimmt Cremer Gedanken dazu auf und meint zugleich: „Therapien oder Selbstfindungskurse nützen da nichts.“ Er zitiert lieber zitiert die Theologin Dorothee Sölle: „Es bleibt ein zu wenig“ und erinnert an die Philosophin Simone Weil, die die Beziehung zwischen Gott und den Menschen mit „Klopfzeichen an der gemeinsamen Wand zweier Gefängniszellen“ umschreibt – getrennt und doch fest verbunden: „Jede Trennung ist einen Verbindung.“

Mit diesen Worten steuert das Trio aeolus in die Schlussphase des Abends, spielt Debussys Sonaten für Flöte, Viola und Harfe, ein Tongemälde mit Glanzlichtern, abenteuerlichem Temperament und viel Raum für Nachdenklichkeit. „Drei wunderbare Künstlerinnen, wir werden alle im Herzen etwas mitnehmen“, verabschiedet Herpers die Menschen, die zum Abschluss den Advent begrüßen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, die Orgel, gespielt von Domkapellmeister Botzet, erklingt kraftvoll, denn „es kommt der Herr der Herrlichkeit“. Endlich darf man applaudieren. Der Dom wird wieder heller. Um die Programmfolge zu lesen, war die „Nachtführung“ des Lichtkonzepts allerdings eindeutig zu „nächtlich“ finster. Vielleicht gibt es Alternativen, sonst nutzt das Publikum dann doch noch die grellen Smartphone-Lämpchen.

Alle Fotos: Andreas Steindl