Die aktuellen Arbeiten an der Chorhalle schreiten planmäßig voran. Die unter dem Begriff der „Pflegenden Hand“ durchgeführte Reinigung und Sicherung unterstützt die kontinuierliche Bestandspflege am Aachener Dom. Ganz anders sah es vor rund 100 Jahren aus, als der Bestand der Chorhalle ernstlich gefährdet schien!

1916 plante der Karlsverein, die Innendekoration der Chorhalle an die einige Jahre zuvor im karolingischen Bau abgeschlossene Innendekoration anzupassen. Doch als die Gerüste aufgestellt und ein erster Blick aus der Nähe auf die Gewölbe, Rippen und Pfeiler möglich war, zeigten sich Schäden von ungeahntem Ausmaß. Der damalige Münsterbaumeister Josef Buchkremer berichtet von bis zu 12 cm breiten Rissen in den Gewölben und Pfeilern sowie von Rippensteinen und Kämpferplatten, die vom Schub der Gewölbe geradezu zerdrückt worden waren.

Anders als seine Vorgänger fasste Buchkremer den Entschluss, es nicht bei Schönheitsreparaturen zu belassen, sondern die Ursache für diese gravierenden Bauschäden zu ergründen und angemessene Gegenmaßnahmen einzuleiten. Schnell zeigte sich, dass das gotische Ankersystem, das den Chor mit dem karolingischen Bau verband und die Schubkräfte vertikal in die Pfeiler der Chorhalle ableitete, zerstört war. Bereits in Folge des großen Aachener Stadtbrandes von 1656 waren wohl erste Gewölbeschäden aufgetreten: Der Brand erfasste auch das Dach der Chorhalle und zerstörte die aus Holz gearbeiteten Auflagen, die den Auftrieb der Gewölbe nach oben hin unterbinden sollten. Arbeiten an den Chorhallenfenstern im 18. und 19. Jahrhundert zogen weitere Schäden an den Ankerverbindungen nach sich.

Die mittelalterliche Verankerung der Chorhalle und der Pirlet’sche Anker. Zeichnung von Josef Buchkremer 1916

Mit Josef Pirlet zog Buchkremer einen versierten Bauingenieur als Experten hinzu, der an der RWTH Aachen eine Professur inne hatte. Pirlet entwarf ein System, das das Erscheinungsbild der Chorhalle unberührt ließ: Ein aus vier Winkeleisen gebildeter Anker erstreckt sich im Dachraum über die ganze Länge des Chores. Am östlichen Ende, oberhalb des letzten Schlusssteins, schließen sich sechs runde Ankerstangen an, die in die östlichen Strebepfeiler eingreifen. Das westliche Ende des Systems liegt oberhalb des karolingischen Oktogons und ist dort mit sechs seiner Ecken verbunden. Somit war die alte Verbindung zwischen Chorhalle und Karolingerbau wieder hergestellt. Zudem wurden Eisenbeton-Balken von Mauer zu Mauer eingebaut, deren Gewicht das weitere Auftreiben der Schlusssteine verhindert.

Nach dieser statischen Sicherung folgte die Instandsetzung des Gewölbes. Besonders dramatisch waren die Schäden in den östlichen Gewölbefeldern, so dass diese vollständig ausgebaut und neu erstellt werden mussten. Am 18. April 1922 konnte die Chorhalle wieder für den Gottesdienst freigeben werden. Auch wenn sich im Laufe der Zeit zeigte, dass der „Pirlet’sche Anker“ als alleinige Sicherungsmaßnahme nicht ausreichend war, ist er noch immer vor Ort und trägt das Seine zur Standfestigkeit des Aachener Doms bei.